Aus der Nachbarschaft

«Hier oben gehts noch sehr gut»

Margrit Gander kann im nächsten Jahr – hoffentlich – wie die abl den 100. Geburtstag feiern.

Margrit Gander ist gleich alt wie die abl. Wir haben die vife ­99-jährige Seniorin in ihrer abl-Wohnung besucht, ihr zugehört – und mehr als einmal gestaunt.

Zugegeben: Im Vorfeld des Gesprächs mit einer 99-jährigen Frau macht sich der Journalist schon so seine Gedanken. Wie geht es der Dame wohl gesundheitlich? Verstehen wir uns – also nicht nur auf der Sympathieebene, sondern auch akustisch? Wird sie in der Lage sein, die mitgebrachten Fragen zu beantworten? 

Und dann steht man wie vereinbart eines Dienstags um 14 Uhr vor der Wohnung am Margritenweg und drückt auf die Klingel. «Hallo?», ertönt es kurz darauf aus der Gegensprechanlage. Erster Eindruck: Diese Stimme kann keine 99 Jahre alt sein. Danach gehts zwei Stockwerke die Treppe hoch – einen Lift gibt es nicht – und dann steht sie auch schon vor einem. Margrit Gander blickt auf die Uhr und lacht: «Pünktlich wie der Wetterbericht!» Zweiter Eindruck: Diese Dame hat Humor.

«Das rechte Knie können Sie mitnehmen»
Die ersten Eindrücke werden in den folgenden zwei Stunden immer wieder bestätigt. Gander ist zwar schon bald 100 Jahre alt – im Gespräch mit ihr ist das indessen nicht zu spüren. Sie ist vif, auf Zack, charmant und eloquent. Aber trotzdem alt genug, um kein Blatt mehr vor den Mund nehmen zu müssen. «Hier oben gehts noch sehr gut», sagt die Gastgeberin und tippt mit ihrem Zeigefinger auf die Schläfe. «Das rechte Knie können Sie dafür gerne mitnehmen.» 

Aber von vorne: Am 24. Januar 1924 erblickte Margrit Gander das Licht der Welt. Die ersten Jahre verbrachte sie in Winterthur, später zog die Familie nach Schaffhausen, wo sie den Grossteil ihrer Kindheit verbrachte. Den Dialekt hat sie sich bis heute bewahrt. Als aus dem Kind ein Teenager wurde, heuerte ihr Vater im Stahlwerk von Moos in Emmenbrücke an; fortan wohnte die Familie in Reussbühl. Nach der Realschule begann Margrit eine Lehre als Verkäuferin in einem Nähgeschäft in der Stadt. «Die Arbeit gefiel mir, weshalb ich auch nach meiner Hochzeit einige Jahre später aushilfsmässig als Verkäuferin tätig war.»

Ein grosses Geschenk
Noch wichtiger als ihr Job war ihr aber die Freizeit. Sie liebte es, sich auf ihr Velo zu schwingen und durch die Gegend zu fahren. Ob Furka, Susten, Brünig oder Gotthard: kaum ein Pass, den sie nicht bezwang – ohne Strom, versteht sich. Genauso wohl wie auf zwei Rädern fühlte sie sich auf langen Holzbrettern: Gemeinsam mit ihrem Mann unternahm sie gerne anspruchsvolle Skitouren. Funktionsjacken und Helm sucht man im dazugehörigen Fotoalbum vergebens, dafür gibt der «Ski-Rock» Anlass zum Schmunzeln. Heute macht Gander keine grossen Sprünge mehr, zufrieden ist sie trotzdem. Mehr als das: «Ich betrachte es als Geschenk, dass ich in meinem Alter noch zuhause sein darf.» Seit 30 Jahren lebt sie nun schon am Margritenweg. Und wer sich nun fragt, wie das funktioniert, dem sei gesagt: gut, sehr gut sogar. Freitags begleitet sie jeweils der Schwiegersohn in den Länderpark nach Stans, wo sie ihren Wocheneinkauf tätigt. Mit Ausnahme einer Putzhilfe, die ab und zu vorbeikommt, macht sie zuhause alles selbst.

Ein Mahlzeitendienst zum Beispiel kommt für sie nicht in Frage. «Dafür koche ich selber zu gern.» Salat und Gemüse gibts täglich, ab und zu kommt ein Stück Fleisch auf den Teller, zum Frühstück gibts Brot, Konfi, Früchte und Käse, abends gerne ein Birchermüesli. «Nur Braten habe ich schon lange nicht mehr gemacht», sagt sie und seufzt. «Für wen auch?» Und wenn wir schon beim Thema Essen sind: Ein kleines Laster hat sie selbstverständlich auch. «Ich bin ein Schleckmaul», sagt Gander und lacht. «Schokolade kann ich nicht widerstehen.»

Passionierte Hobby-Künstlerin
Auch ihre Wäsche bringt die 99-Jährige selber in die Waschküche. «Einfach langsam, Schritt für Schritt. Und die netten Nachbarn vom Stock weiter oben bringen sie mir jeweils wieder zurück.» Überhaupt pflegt sie regen Kontakt zur Nachbarschaft. «Zumindest zu jenen, die ich noch kenne.» Zu schätzen weiss sie auch die abl, seit 1945 ist sie Mitglied der Genossenschaft. «Die Verwaltung kümmert sich wirklich gut um die ­Mieterschaft. Wenn mal etwas kaputt ist, wird das sofort repariert, zack, zack.»

Wenn der Haushalt erledigt, das Essen gekocht, die Zeitung gelesen ist, nimmt sich Gander Zeit für ihr liebstes Hobby: das Ausmalen und Gestalten von Postkarten. Dutzende davon liegen fein säuberlich in alten Pralinenboxen verstaut. «Manchmal arbeite ich bis um Mitternacht an meinen Karten», erzählt sie. «Früher habe ich sie regelmässig verschickt.» Aber auch dabei ist es wie beim Braten: «Ist ja kaum mehr jemand da.»

Bei einem Thema verändert sich Ganders Gesichtsausdruck. Statt eines strahlenden Lächelns blicken einem auf einmal feuchte Augen an. Es ist noch kein Jahr her, als ihre Tochter an Krebs starb. «Es gibt nichts Schlimmeres, als vom eigenen Kind Abschied nehmen zu müssen», sagt Gander, die Stimme nun etwas zittrig, der Blick gesenkt. Die Tochter wurde 68 Jahre alt, auf zahlreichen Fotos im Wohnzimmer ­lächelt die sympathische Frau dem Besucher entgegen. «Das hat grausam wehgetan, aber irgendwie muss ich mich damit abfinden», sagt die zweifache Mutter.

Abfinden muss sie sich auch mit der eigenen Endlichkeit – und das gelingt ihr ganz gut. «Der Tod bewegt mich nicht mehr so sehr wie auch schon.» Trotzdem betet sie jeden Abend zum lieben Gott. Auch für den Fall, dass es ihr doch irgendwann schlechter gehen sollte, hat sie vorgesorgt. «Ich bin schon lange Mitglied bei Exit.»

Eine Schifffahrt zum 100. Geburtstag?
Gander ist dankbar, dass es das Leben «alles in allem» sehr gut mit ihr gemeint hat. Was nicht bedeutet, dass auch sie schwierige Zeiten zu überstehen hatte, nicht nur, was die Krankheit ihrer Tochter anbelangte.

Der Tod ihres Mannes in den 1990er-Jahren gehört dazu, aber auch der Zweite Weltkrieg. Als dieser 1939 begann, war sie als Au-pair in Genf. «Wir erlebten hautnah, wie die jungen französischen Männer ennet der Grenze von ihren Familien Abschied nahmen und in den Krieg einrückten. Schrecklich!» Lange ists her – und doch noch so präsent. Überhaupt scheint die Frau noch viele Erinnerungen bildhaft im Kopf zu haben. Geht es nach ihr, dürften auch noch ein paar neue hinzukommen: «Ich würde gerne noch einmal eine Schifffahrt auf dem Vierwaldstättersee unternehmen», sagt sie. Und dann hat sie noch einen anderen, ­grossen Wunsch: «Ich möchte unbedingt noch meinen 100. Geburtstag erleben. Dann kommen die Leute von der Stadt vielleicht wieder mit einem Blumenstrauss vorbei.»

Als sich das Gespräch dem Ende nähert, streckt Gander dem Besuch erneut die Hand entgegen und bietet ihm das Du an: «Ich bin Margrit.» Und dann – wir stehen bereits an der Türschwelle – beweist sie noch einmal ihren Humor. «Wo wohnst du eigentlich?», will sie wissen. «Aha, an der Bireggstrasse, ganz in der Nähe also. Dann hörst du mich jeweils bestimmt, wenn ich nachts schnarche?»

Zugegeben: Dieses Gespräch hat sich der Journalist tatsächlich etwas anders vorgestellt.