Genossenschaftskultur
Komplett anders verlaufen als vorgestellt
Die Aussicht auf den Pilatus vom Balkon am Mittlerhusweg 18 in Kriens könnte im Bilderbuch nicht schöner sein. Auch Karolin und Tobias Naujokat waren von ihr begeistert, als sie vor fünf Jahren die Wohnung besichtigten. In Düsseldorf, wo sie früher lebten, ist alles flach, man ist umgeben von einer riesigen Stadt. Berge sind weit und breit keine zu sehen.

Tobias kam zuerst in die Schweiz. Er trat eine Arbeitsstelle als Software-Ingenieur bei einer Versicherung an und wohnte zunächst in einem kleinen Studio in Luzern. Von der abl hatte Tobias gehört und er wurde bald Mitglied. Weil er jedoch wusste, dass es lange dauern konnte, bis er eine abl-Wohnung erhalten würde, prüfte er auch alle anderen Wohnungsangebote in der Region, die ihm für seine Familie geeignet erschienen. «Ich weiss nicht, für wie viele Wohnungen ich mich beworben habe. Aber ich hatte keine Chance. Trotz Empfehlungsschreiben von einem Arbeitskollegen und leerem Betreibungsregisterauszug hörte ich Sätze wie: ‹Sie glauben doch nicht, dass wir Ihnen diese Wohnung geben.› Erst nach einem halben Jahr klappte es in einer neuen Überbauung in Kriens, wo viele Wohnungen leer standen. Der Preis war hoch, aber es war unsere einzige Chance.»
«Noch heute werden wir gefragt, woher der Name kommt»
Nun konnte auch Karolin nachziehen; in Erwartung des zweiten Kinds und mit der gemeinsamen Tochter Paula. Karolin erinnert sich: «In der Siedlung lebten viele ausländische Familien, denen es wie uns ergangen war. Diese geteilte Erfahrung brachte uns zusammen und miteinander in Kontakt.»
Tobias und Karolin sind überzeugt, dass der fremdklingende Name «Naujokat» ihre Wohnungssuche so schwierig machte. «Noch heute werden wir überall gefragt, woher der Name kommt; auf der Post, auf den Ämtern, im Spital ... Oft haben wir den Eindruck, dass Skepsis in der Frage mitschwingt. Dabei stammt der Name aus dem früheren Ostpreussen. Meine Gross-eltern wanderten vor dem Ersten Weltkrieg nach Berlin aus, wo der Name heute gar nicht selten ist», erklärt Tobias und Karolin verdeutlicht diese Erfahrungen mit einem Beispiel: «Ich musste mich im Spital untersuchen lassen, und als ich auf eine Frage nicht sofort antwortete, tauschten sich zwei Mitarbeitende in meiner Gegenwart über meinen für sie seltsam klingenden Namen aus und fragten sich, ob ich überhaupt Deutsch verstehe. Wenn ich in solchen Situationen jeweils erkläre, dass ich Deutsche bin, werden die Leute oft freundlicher. Dann muss ich daran denken, wie schwierig es für Menschen ist, die keine solche Erklärung abgeben können.»
Im Corona-Jahr im Mittlerhusweg eingezogen
Zum Glück stand der Name «Naujokat» nicht im Weg, eine abl-Wohnung zu bekommen. Karolin und Tobias kannten die Siedlung Mittlerhusweg bereits, weil der Schulweg ihrer Kinder mittendurch führte. Als sie sich für die Wohnung bewarben, landeten sie auf der Vergabeliste hinter den Erstplatzierten, die jedoch absagten. «Diese Chance packten wir, ohne zu zögern», erzählt Tobias: «Bei der Besichtigung wussten wir sofort, hier möchten wir wohnen. Die schöne Wohnung mit dem Balkon und dieser Aussicht, die Siedlung mit dem vielen Grün, der autofreie Aussenraum mit Spielplätzen, der Nutzgarten – alles hat uns extrem gut gefallen.» «Der Umzug im 2020 während des Lockdowns war dann unser nächstes Abenteuer», ergänzt Karolin. «Wir wussten nicht, ob Zügelunternehmen überhaupt arbeiten durften. Auch konnten wir keine Anschaffungen machen, weil alle Geschäfte geschlossen waren. Schlussendlich hat aber alles geklappt und wir sind einfach mit dem gekommen, was wir hatten. Das war auch gut so.»
Tagesmutter statt Sozialarbeiterin
Nach dem Umzug stand Karolin vor der nächsten Herausforderung: «Ich bin Sozialarbeiterin und erhielt auf meine Bewerbungen für Stellen in meinem Beruf nur Absagen. Obwohl ich einen Master-Abschluss habe, brauchte ich neun Jahre Geduld und zwei CAS-Weiterbildungen, bis ich als Sozialarbeiterin wieder Fuss fassen konnte.» Während dieser Zeit arbeitete Karolin vorerst fünf Jahre als Tagesmutter. «Es machte mich schon traurig, eine Rolle zu haben, die ich so nicht haben wollte. Gleichzeitig war es aber auch sehr schön mit den zwei Tageskindern und eine grosse Chance, so viel wertvolle Zeit mit meinen Kindern zu verbringen. Schwierig war aber die Ungewissheit, ob ich je wieder den Einstieg schaffen würde.» Doch Karolin liess nicht locker und ihre Anstrengungen halfen ihr auch über diese Hürde: Sie fand eine Stelle als Sozialpädagogin und vor knapp einem Jahr auch wieder in ihrem erlernten Beruf als Sozialarbeiterin.
Hier zu wohnen, bedeutet für uns Heimat
Tobias und Karolin erzählen ohne Bitterkeit von dem schwierigen Start in der Schweiz: «Manchmal können wir auch darüber lachen. Es ist einfach komplett anders verlaufen, als wir uns das vorgestellt haben. Dabei ist aber auch unerwartet Schönes entstanden.» Karolin schildert auch hiervon ein Beispiel: «Ich war immer ein ‹Seemensch› und hatte die Vorstellung, wenn in dieser Gegend wohnen, dann am See. Jetzt sind wir in Kriens und statt auf den See blicken wir in die Berge, und ich bin mittlerweile mehr Fan von diesen Bergen als vom See. Auch die Siedlung Mittlerhusweg hat unser Leben sehr verändert. Hier zu wohnen, bedeutet für uns Heimat. Wir essen manchmal gemeinsam mit Nachbarn, gehen gerne an Siedlungsfeste und engagierten uns früher in der Garten- und Kompostgruppe. Auch über die Kinder lernten wir Nachbarn näher kennen und teilweise sind daraus Freundschaften entstanden.»
Fische beobachten, Musik hören und spielen
Dass die Familie Naujokat ihr Zuhause geniesst, ist auch im Wohnzimmer leicht erkennbar. Gegenüber dem Sofa fällt der Blick auf ein grosses Aquarium mit Korallen und bunten Fischen. «Ja, wir sitzen oft auf dem Sofa und beobachten das Farbenspiel der Korallen und natürlich die Fische; wie sie sich bewegen, sich im Sand zum Schlafen einbuddeln, sich annähern und wieder verscheucht werden. Sie haben alle ein Eigenleben und spannende Interaktionen.» Ebenfalls auffällig ist das wandfüllende Bücherregal, gefüllt mit Musik-CDs und unzähligen bunten Schachteln mit Spielen für jedes Alter. Tobias schmunzelt: «Die CDs sind eher Nostalgie. Natürlich nutzen wir Spotify und hören damit alles; von unseren Jugendhits bis zu aktuellen Songs.» Die Spiele hingegen sind Karolins Leidenschaft, die sie mit ihrem Sohn Tim und gerne auch mit seinen Freunden teilt. Eines der ersten Spiele haben Tobias und Karolin vor vielen Jahren jedoch für sich gekauft: ein Tisch-Eishockey. Etwas verbogen und verbeult ist ihm anzusehen, dass sie oft und leidenschaftlich damit gespielt haben. Und beide nehmen mit einem Lachen je für sich in Anspruch, immer zu gewinnen.